” Kriegslieder und Nationalhass”.
“Man hat Ihnen vorgeworfen”,
bemerkte ich etwas unvorsichtig, “dass Sie in jener grossen Zeit nicht
auch die Waffen ergriffen, oder wenigstens nicht als Dichter eingewirkt
haben.”
“Lassen wir das, mein Guter !” erwiderte Goethe, “Es ist
eine absurde Welt, die nicht weiss, was sie will, und die man muss reden
und gewähren lassen. Wie hätte ich die Waffen ergreifen können ohne
Hass ! Und wie hätte ich hassen können ohne Jugend ! Hätte jenes Ereignis
mich als Zwanzigjährigen getroffen, so wäre ich sicher nicht der letzte
geblieben ; aber es fand mich als einen, der bereits über die sechzig
hinaus war…
Kriegslieder schreiben und im Zimmer sitzen - das
wäre meine Art gewesen ? Aus dem Biwak heraus, wo man nachts die Pferde
der feindlichen Vorposten wiehern hört : da hätte ich es mir gefallen
lassen. Aber das war nicht mein Leben und nicht meine Sache,
sondern die von Theodor Körner. Ihn kleiden seine Kriegslieder auch ganz
vollkommen. Bei mir aber, der ich keine kriegerische Natur bin und
keinen kriegerischen Sinn habe, würden Kriegslieder nur eine Maske
gewesen sein, die mir sehr schlecht zu Gesicht gestanden hätte. Ich habe
in meiner Poesie nie affektiert. Was ich nicht lebte und was mir nicht
auf die Nägel brannte und zu schaffen machte, habe ich auch nicht
gedichtet und ausgesprochen. Liebesgedichte habe ich nur gemacht, wenn
ich liebte. Wie hätte ich nun Lieder des Hasses schreiben können ohne
Hass ! Und unter uns, ich hasste die Franzosen nicht, wiewohl ich Gott
dankte, als wir sie los waren. Wie hätte ich auch eine Nation hassen
können, die zu den kultiviertesten der Erde gehört und der ich einen so
grossen Teil meiner eigenen Bildung verdankte !
Überhaupt- fuhr
Goethe fort- ist es mit dem Nationalhass ein eigenes Ding. Auf den
untersten Stufen der Kultur werden Sie ihn immer am stärksten und am
heftigsten finden. Es gibt aber eine Stufe, wo er ganz verschwindet und
wo man gewissermassen über den Nationen steht , und man ein Glück oder
ein Wehe seines Nachbarvolkes empfindet, als wäre es dem eigenen
begegnet. Diese Kulturstufe war meiner Natur gemäss, und ich hatte mich
lange darin befestigt, ehe ich mein sechzigstes Jahr erreicht hatte.
Eckermann. ” Gespräche mit Goethe”, den
14. März 1830.